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Reinhard Mey erinnert daran: Es ist an der Zeit

Verfasst: Mi 23. Feb 2022, 00:17
von migoe
Heute hat Reinhard Mey in der Chronik seiner Webseite auf seine Interpretation des Hannes Wader Liedes Es ist an der Zeit erinnert, welche er auf der Demo gegen den Irak-Krieg am 15. Februar 2003 in Berlin gesungen hat.
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In diesem Zusammenhang finde ich die Interpretation dieses Liedes von Georg Nagel erwähnenswert, die auf dem Blog Deutsche Lieder im August 2017 veröffentlich wurde...

Reinhard Mey erinnert daran: Es ist an der Zeit

Verfasst: Sa 26. Feb 2022, 16:37
von Gitarrenspieler2
... und hier aus aktuellem Anlass eine weitere, wie ich finde, sehr gelungene Interpretation von "Es ist an der Zeit" von Björn Nonnweiler

[youtube]https://www.youtube.com/watch?v=Y2ud9tJwbE4 [/youtube]

Reinhard Mey erinnert daran: Es ist an der Zeit

Verfasst: Do 17. Mär 2022, 08:27
von Lothar Jahn
Interessant ist der Vergleich mit Eric Bogles Original, "The Green Fields of France". Wader hat in seiner Übersetzung das Lied verallgemeinert, bei ihm ist es ein namenloser Soldat, im Original hieß er "Willie McBride". Man kann den Text hier nachlesen:
https://celtic-lyrics.com/lyrics/225.html .

Die Geschichte mit der möglichen Vergewaltigung, gegen die sich der Soldat dann entscheidet, ist von Wader eingefügt. Und obwohl der Inhalt und das Fazit des Originals natürlich in die selbe Richtung deutet, ist bei Wader ein stärkerer Appell ans Handeln heute eingebaut, fast flugblattmäßig der Vergleich, "sie" (die Politiker, Konzerne, Presse, Herrschenden etc.), die uns damals wie heute belogeh haben, und dann dieser Aufruf zur Friedensdemo und "wir sind viele", die dagegen stehen. Das schafft natürlich das Gemeinschaftsgefühl beim Singen, ich finde die vierte Strophe, die irritierende Fragen stellt und dieses eher pessimistische "again and again and again" ansprechender. Und leider auch realistischer, wie die Geschichte lehrt.

Reinhard Mey erinnert daran: Es ist an der Zeit

Verfasst: Do 17. Mär 2022, 22:01
von Westwind
Hallo Lothar,
Lothar Jahn Zitat: Do 17. Mär 2022, 08:27
ich finde die vierte Strophe, die irritierende Fragen stellt und dieses eher pessimistische "again and again and again" ansprechender.
Diese Zeile ist für mich nur ein Beispiel, weshalb ich den Originaltext insgesamt ansprechender finde und auch die Originalversion selbst lieber singe. Bei meiner Straßenmusik habe ich einen Kompromiß gefunden und singe 2 Strophen im Original und 2 Strophen von Hannes. Ich würde Hannes' Version ohnehin als eigenes Lied ansehen und nicht unbedingt mit dem Original vergleichen. Ich hatte mal eine Aufnahme der Gruppe Wacholder (mit Hannes' Text) zusammen mit Eric Bogle, wo die Strophen auch entsprechend aufgeteilt wurden. Mir gefiel die Idee.

Es ist eine etwas andere Geschichte, die Hannes erzählt, mit anderen, teilweise eindringlicheren Bildern. Die Version ist wie ich finde härter, schroffer und rauer, aber das ist sicherlich so gewollt. Mit 2 Zeilen konnte ich mich nie wirklich anfreunden:
"Bist du auf deinen Beinstümpfen weiter gerannt? Und dein Grab, birgt es mehr als ein Bein, eine Hand. "
Das weckt natürlich sofort unvermittelt entsprechende grausame Vorstellungen. Paßt natürlich zum Stil des Gesamttextes, aber meinen Geschmack, den Blick auf die Realität zu schildern, trifft es nicht unbedingt.
und
"Für den Frieden zu kämpfen..." Rein von der Wortwahl ist das ein Widerspruch, weshalb ich es selbst nicht gerne singe, aber es ist andererseits schon ein starkes Bild.

Im Original finden sich die Zeilen:
"or are you a stranger without even a name
forever enshrined behind some old glass pane
in an old photograph torn, tattered, and stained
and faded to yellow in a brown leather frame"


Solche eher lyrischen Formulierungen finde ich ansprechender.

Oder folgende Zeile:
"the countless white crosses in mute witness stand".

An diese Zeile muß ich immer denken, wenn ich Reinhard Meys "Der Wind geht allezeit über das Land" höre mit der Zeile:
"Von hölzernen Kreuzen auf Hügeln im Sand
Die – ein endloses Heer – stumm in Reih' und Glied steh'n"


Ich finde es aber gut und wichtig, daß Hannes einen deutschen Text auf die Melodie gedichtet hat, und schön, daß dieser mit den Jahren immer bekannter wurde.

Soweit meine Gedanken...

Gruß
Georg

Reinhard Mey erinnert daran: Es ist an der Zeit

Verfasst: Fr 18. Mär 2022, 13:39
von Viktor
Hallo miteinander,

ui, können wir das in Zukunft mit allen von Hannes' Übertragungen machen? Könnte mich stundenlang über kleine Nuancen unterhalten, haha.

Ich möchte ergänzen, was Hannes selbst im Textheft zu "Folk Friends 2" (1981) über seine Motivation zum Nachdichten schrieb:
Angesichts der allgemeinen und andauernden Bedrohung der Menschheit durch einen nuklearen Krieg wollte ich schon seit langem ein Lied zu diesem Thema schreiben. Als ich dann Eric Bogles Song hörte, spürte ich sofort, daß es vieles von dem enthält und ausdrückt, was ich sagen wollte. Zwar erinnert Eric Bogies Lied an die Schrecken des 1. Weltkrieges, aber ich meine, daß die Mechanismen hinter Aufrüstung und Kriegstreiberei immer noch dieselben sind. [...]
Interessant, was du zu den Zeilen sagst, Georg, mit denen du Schwierigkeiten hast.
Ich persönlich sehe das total anders (will damit dein eigenes Empfinden aber gar nicht absprechen, deine Äußerungen leuchten schon ein). Ich halte für Frieden zu "kämpfen" nämlich nicht für einen Widerspruch, sondern eine poetisch gute Ausdrucksweise; es gibt ja viele nicht gewalttätige "Kämpfe", Arbeitskampf, für etwas kämpfen -- da passt für mich auch, für Frieden zu kämpfen.
Und die Zeilen zu Verstümmelung usw. sind wahrlich irgendwie abstoßend (wie auch die von Lothar angesprochene Vergewaltigungs-Passage), aber wenn so ein Lied starke Gefühle hervorruft, umso besser.
(Übrigens, das bei YouTube meistgeklickte "Es ist an der Zeit"-Video [mit einer Slideshow irgendwelcher Kriegsgräber usw.] ist seit 1 Woche auf "ab 18" gestellt durch eine Automatisierung; ich nehme an, in irgendeiner Illustration hat die künstliche Intelligenz zu große Grausamkeit erkannt. Da ist die Beschränkung auf Bilder im Kopf vielleicht doch der bessere Weg.)

Insgesamt konnte ich persönlich immer beiden Liedern, Original und Übertragung, etwas abgewinnen, aber die hervorgerufene Stimmung ist jeweils wirklich ein wenig anders.
Den entscheidenden Unterschied sehe ich in dem, was auch Lothar schon erwähnte. Hannes' Refrain bezieht plötzlich "uns" ein, holt einen schlagartig in die Gegenwart.

Übrigens, auf dem schon erwähnten Folk Friends 2 gibts eine zweisprachige Version, gesungen von Finbar Furey (die Furey-Brüder brachten schon 1979 ihre Version von Bogles Song raus), Alex Campell und Hannes Wader. Die Stropheneinteilung dürfte dort genau so sein, wie es Georg gerade /nicht/ gefallen dürfte, sprich, erst zwei englische, dann Hannes zum Abschluss - da gibt's also keinen "mute witness stand", aber eben die "Beinstümpfe" und "Kämpfen" für Frieden.
Jedenfalls ist diese Version gerade wie von Zauberhand bei YouTube aufgetaucht. Falls sie jemand noch nicht kennt / nicht ständig die Vinyl ausm Schrank holen möchte:
[youtube]https://www.youtube.com/watch?v=s0Ph0RqZSlk [/youtube]

Viele Grüße
Viktor

Reinhard Mey erinnert daran: Es ist an der Zeit

Verfasst: Fr 18. Mär 2022, 13:58
von Skywise
Viktor Zitat: Fr 18. Mär 2022, 13:39
Jedenfalls ist diese Version gerade wie von Zauberhand bei YouTube aufgetaucht. Falls sie jemand noch nicht kennt / nicht ständig die Vinyl ausm Schrank holen möchte
In Ehren halten bitte. Das ist eines der drei Stücke, die aus Kapazitätsgründen seinerzeit von der CD-Fassung dieses Albums gekürzt und meines Wissens bei keiner anderen Gelegenheit veröffentlicht wurden (neben Waders Brecht/Dessau-Interpretation von "Es lebte eine Gräfin im schwedischen Land" und Alex Campbells "The Band Played Waltzing Mathilda").

Gruß
Skywise

Reinhard Mey erinnert daran: Es ist an der Zeit

Verfasst: Fr 18. Mär 2022, 19:45
von Marc
Hallo zusammen!
Westwind Zitat: Do 17. Mär 2022, 22:01
Es ist eine etwas andere Geschichte, die Hannes erzählt, mit anderen, teilweise eindringlicheren Bildern. Die Version ist wie ich finde härter, schroffer und rauer, aber das ist sicherlich so gewollt. Mit 2 Zeilen konnte ich mich nie wirklich anfreunden:
"Bist du auf deinen Beinstümpfen weiter gerannt? Und dein Grab, birgt es mehr als ein Bein, eine Hand. "
Das weckt natürlich sofort unvermittelt entsprechende grausame Vorstellungen.
Ich bin gerade dabei, Hannes‘ Lieder als Gedichte einzulesen. Viele Texte, die ich lange kenne, entdecke ich noch mal ganz neu, indem ich sie von ihrer Melodie löse und versuche, sie lesend neu zu interpretieren. Als ich „Es ist an der Zeit“ aufnahm, ging es mir ähnlich wie Dir, Georg, und ich fragte mich, wie ich sie lesen bzw. deuten soll. Letztlich sehe ich in den Versen auch viel Grausamkeit, ja, vor allem aber große Verzweiflung, die mich fassungslos macht. Ich persönlich finde die Verse in ihrer Schonungslosigkeit enorm wirkungsvoll.

Liebe Grüße
Marc

Reinhard Mey erinnert daran: Es ist an der Zeit

Verfasst: Fr 18. Mär 2022, 21:47
von migoe
Lieber Marc,
Marc Zitat: Fr 18. Mär 2022, 19:45
Letztlich sehe ich in den Versen auch viel Grausamkeit, ja, vor allem aber große Verzweiflung, die mich fassungslos macht. Ich persönlich finde die Verse in ihrer Schonungslosigkeit enorm wirkungsvoll
ich wollte mich genau so dazu äußern und finde, Du hast es perfekt ausgedrückt.

Reinhard Mey vermittelt in seinem Lied "Frieden" z.B. auch sehr eindrücklich aber in weniger plastischen Bildern, was Krieg bedeutet. In einer Zeile singt er
...so sieht es aus, das Bild des Sieges...
und ich hatte lange Krieges statt Sieges herausgehört. Seine Formulierung ist aber wesentlich treffender und gerade im Hinblick auf den aktuellen Krieg in der Ukraine für mich eine sehr niederschmetternde Erkenntnis, wie ausgesprochen Recht Mey damit hat und dass die Bilder, welche er in seinem Lied beschreibt (...wimmender sterbender Soldat... ...von Granatsplittern verletzt... ...im Flur ein Kind auf einer Bahre... ... ein leises Wimmern nur zuletzt... usw.) keine Hirngespinste sind, sondern er damit die tatsächliche Realität beschreibt.

Doch zurück zum Lied "Es ist an der Zeit" von Wader: für mich ist der Refrain der eigentliche Gänsehaut Moment in diesem Lied, weil Hannes Wader - wie auch Viktor schreibt - "uns" persönlich anspricht und aufrütteln möchte, was ihm in meinem Fall auch jedesmal gelingt!