Ich habe überlegt, ob ich mit meinen Erinnerungen etwas aushole, oder die Kurzfassung abliefere. Ich habe mich für die längere Variante entschieden, denn für mich gehört das alles zusammen.
Für mich begann alles an dem Tag, als mein älterer Bruder nach einem Kinobesuch an einem Montag nicht nach Hause kam. Er blieb die ganze Nacht weg und alle machten sich große Sorgen. Am Dienstagnachmittag war er plötzlich wieder da und erzählte, was ihm widerfahren war.
Er kam gerade an der Nikolaikirche vorbei, als plötzlich ein paar Leute Transparente entrollten und Sprechchöre zu hören waren. Neugierig geworden, blieb er stehen. Es verschlug ihm wahrlich den Atem. Einer solchen Aktion zuzusehen war praktisch unvorstellbar. Demos waren nur erlaubt (bzw. wurden angeordnet) wenn „deutliche Bekenntnisse zu Sozialismus und Staat“ ausgedrückt wurden. Was er da sah, war etwas völlig anderes.
Aber ehe er sich noch über das Geschehen klar wurde, wurde er plötzlich gepackt und mit etlichen anderen Leuten zusammen verhaftet.
Er erzählte von der Nacht, die sie im Stehen mit gespreizten Beinen und den Händen an der Wand verbringen mussten. Aber am Dienstag wurde er plötzlich wieder freigelassen.
Danach ging es Schlag auf Schlag. Die Demos wurden größer und größer. Natürlich war da auch immer die Angst, aber das Wissen, dass so viele Leute den gleichen Mut aufbringen, das trug unglaublich.
Und dann kam der 9. November 1989!
Seit Anfang September war ich auf Meisterlehrgang. Dieser hatte noch mit ML (Marxismus-Leninismus) und der typischen sozialistischen Ausrichtung begonnen. Aber schon nach kurzer Zeit wurde der Unterricht von den Ereignissen der Zeit eingeholt. Anfänglich wurde noch
versucht, uns vom "konterrevolutionieren" abzuhalten und uns von der "Fernsteuerung" der Demos aus dem kapitalistischen Ausland zu überzeugen. Unser ML-Lehrer (dieser hieß sinnigerweise Heil!) hat solcherart Agitation bis zum Schluss probiert.
Aber die Ereignisse überschlugen sich und im November war der lehrplanmäßige Unterricht schon länger den Diskussionen über Tagespolitik gewichen. So auch an diesem Tag.
Wir hatten eine Dozentin, welche ihre Sympathien für die Demonstranten von Anfang an recht deutlich zum Ausdruck brachte und diese Frau erzählte uns, dass sie aus sicherer Quelle wisse, dass für den nächsten Montag (13.) der Schießbefehl ausgegeben würde. Dann wurde diskutiert,
wie man das publik machen und eine Katastrophe verhindern könne.
Also bin ich nach dem Lehrgang nicht nach Hause, sondern zu meinen Eltern gefahren. Ich erzählte ihnen vom kommenden Montag und der drohenden Gefahr. In dieser Zeit lief IMMER der Fernseher, man wechselte zwischen sämtlichen Kanälen und hörte zu.
Selbstverständlich war auch an diesem Abend der Fernseher an. Allerdings nahmen wir aufgrund unserer Diskussion wegen des kommenden Montags alles nur peripher wahr. Und dann sagte Schabowski diese historischen Worte. Ich habe das Ganze zwar registriert, aber nicht verarbeitet.
Später brachten meine Eltern mich nach Hause und auch auf der Fahrt überlegten wir die ganze Zeit, wie man am Montag verhindern könne, das geschossen werde.
Mein damaliger Mann schlief schon, also weckte ich ihn und erzählte, was ich wusste. Er hörte mir komischerweise gar nicht richtig zu, er fragte immer nur, ob ich wisse, dass die Mauer auf sei. Ich erwiderte irgendwas in der Richtung wie „Ja, habe ich gehört, ABER AM MONTAG ...“.
Wir redeten völlig aneinander vorbei. Keiner konnte verstehen, warum der andere nicht kapierte, was man sagte.
Die halbe Nacht lag ich wach und zermarterte mir das Hirn wegen des drohenden Schießbefehls.
Irgendwann schlief ich ein.
Am nächsten Morgen war mein erster Gedanke: Scheiße! Die wollen schießen! Was kann man tun?
Und dann dämmerte mir, dass da gestern doch noch was ganz anderes war. Was hatte Schabowski gesagt? Was bedeutete diese Aussage? Was – verdammt noch mal – hatte Andreas mir letzte Nacht zu sagen versucht …?
Ich sprang aus dem Bett, stürzte zum Fernseher und da waren die Bilder der vergangenen Nacht. Meine damals 1 und 3 Jahre alten Söhne haben an diesem Tag nicht viel von mir gehabt. Ich habe den ganzen Tag vorm Fernseher gesessen und geheult.
Es hat noch eine ganze Weile gedauert, bis man wirklich glauben konnte, dass die die Grenze nicht einfach wieder dicht machen und dieser Abend nur als Überdruckventil gedacht war. Aber zum Glück kam alles anders als befürchtet. Mir geht es wie Anne, es gibt viele, mir sehr wichtige Menschen, die ich ohne den Mauerfall nie kennengelernt hätte. Ich bin dankbar!
Und noch ein ganz kleiner Nachtrag: Auch mein Enkelbaby würde ohne den Mauerfall heute nicht existieren, sind doch Katharinas Eltern nach der Wende aus Hessen nach Leipzig gezogen.