Ich habe das Gefühl, wir sind an dem Punkt angekommen, an dem sich jede/r fragen sollte, warum er/sie sich auf ein Album des jeweiligen Lieblingskünstlers/-bands freut. Ist es, weil man neue Lieder der bekannten Art hören möchte, oder weil man ihn/sie von einer neuen Seite kennenlernen möchte.
Meiner Meinung nach ist es für einen Künstler gefährlich, wenn er sich zu häufig "wandelt", denn dann vergrault er jedes mal neu die treuen und eventuell beim letzten Mal gewonnenen Fans, bis er irgendwann nicht mehr deutlich erkennbar und einordenbar ist.
Um auf Mey zurückzukommen:
Wem die Lieder von Reinhard Mey Anfang der 70er Jahre zu leise, zu angepasst und zu "langweilig" waren, der wurde in den 80ern in seiner Meinung bestärkt und hat leider auch in den 90er Jahren keine "Verbesserung" feststellen können. Diese Menschen werden natürlich auch alle Alben seit "Einhandsegler" als "typisch Mey" betiteln und haben damit natürlich recht.
Es soll aber auch Menschen geben, die heute der Meinung sind, Mey hätte mit der Zeit an Schärfe und Spitzzüngigkeit nachgelassen, die Lieder wären eher düster und introvertiert, es ginge nur noch um Familie, gegen Krieg und Tierquälerei. Die "richtig großen Themen" würden von Mey nur noch hier und da thematisiert werden. Diese Menschen warten immer noch auf "Antrag auf Erteilung eines Antragformulars II" und können mit dem Sarkusmus von "Friedrichstraße" oder der Ironie von "Serafina" oder "Wotan und Wolf" wirklich gar nichts anfangen. Vielleicht auch, weil man sich tiefer mit diesen Liedern beschäftigen muß und sich die Aussage nicht sofort auf den ersten Blick erschließt.
Schließlich sind da noch die Fans, die sich Liebeslieder vom Schlage "Sommer" oder "Ich liebe Dich" wünschen, die poetisch und feinsinnig aber allgemein gehaltene Liebesbekundungen wünschen, die je nach Gelegenheit passend vorgebracht werden können, ohne große Anpassungen vornehmen zu müssen. Für diese Menschen sind Lieder wie "Ich bin verliebt in meine Sekretärin" ein Schlag ins Gesicht, weil Mey hier nicht allgemeingültige Liebesfloskeln wiederkäut und herrlich poetisch aber nichtssagend ein weiteres Hohelied auf die Liebe geschrieben hat, sondern einfach seiner "Lieben" ein Liebeslied geschrieben hat - was für ein Kompliment für die Geliebte

Wer die Seite reinhardmey-online.de kannte, hat vielleicht noch das Liederarchiv im Gedächtnis, wo die Lieder Mey in unterschiedliche Kategorien eingeteilt abrufbar waren. Viele Lieder waren natürlich in mehr als einer Kategorie zu finden, in einer Kategorie waren aber die meisten Lieder zu finden -> Kategorie der autobiografischen Lieder!
So war es immer, so wird es immer sein. Das ist nun mal eine der größten Attitüden dieses Liedermachers. Wem das nicht gefällt, der muß sich wohl oder übel eine längere Pause von diesem Künstler gönnen - manche Dinge kann man besser einordnen, wenn man eine Weile Abstand davon genommen hat.
Nun komme ich nochmal an den Anfang dieses Beitrages zurück:
Einem anderen berühmten Liedermacher (Wolf Biermann) wird das Zitat nachgesagt:
Nur wer sich ändert, bleibt sich treu!
Sich treu bleiben, heißt nicht, sich nicht zu ändern (oder anzupassen), wer sich aber ständig anpasst, vergißt bald, wer er selber ist, und wird sich damit irgendwann selbst untreu. Der Grad zwischen dem einen und dem anderen Extrem ist (wie so oft) sehr schmal und jeder muß für sich selber entscheiden, wann welche Richtung "echt" und passend ist.
Ich bin mir sicher, Reinhard Mey hat dazu eine gesunde Einstellung und wird sich immer selber treu bleiben, auch wenn es immer wieder Stimmen geben wird, die ihm nachsagen, hier würde einer seit 30 Jahren immer wieder die gleichen Lieder in leichter Variation veröffentlichen

migoe, der hier bewusst "leicht" überspitzt argumentiert
