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Günter Wallraff ist wieder unterwegs ...

Verfasst: Fr 25. Mai 2007, 14:42
von Skywise
Nachdem es in den letzten Jahren doch etwas ruhiger um den Enthüllungs-Journalisten Günter Wallraff geworden ist (allerhöchstens die Stasi-Vorwürfe 2006 verursachten einige Wellen), macht er sich nun wieder an die Ermittlungsarbeit. Ende der 70er sorgte er für gewaltige Narben im Image der BILD-Zeitung, als er unter falschem Namen (Hans Esser) die Methoden des Boulevard-Blatts auskundschaftete und in einem Buch ("Der Aufmacher") veröffentlichte. In den 80ern sorgte er erneut für Schlagzeilen, als er in der Rolle eines türkischen Gastarbeiters bei Thyssen oder McDonald's anheuerte (die Erfahrungen verarbeitete er in dem Buch "Ganz unten").
Viel hat man ihm vorgeworfen, aber völlig von der Hand weisen konnte man die von ihm angeprangerten Mißstände nie.
Jetzt ermittelt Günter Wallraff wieder. Für die ZEIT ging er zum Maskenbildner und verwandelte sich medienwirksam in einen anderen Menschen. Für seinen aktuellen Artikel arbeitete er einige Tage als Agent in einem Callcenter. Auch diesmal wird man ihm wieder viel vorwerfen können. Daß dies auch geschehen wird, ist sicher keine Frage. Aber allein schon seine Aussage "Ich habe wieder undercover angefangen. Die Zustände fordern es." zeigt, welche Motivation hinter seinen Berichten steht. Und in Zeiten, in denen einem die Räuber nicht mit Schwert und Schild, sondern mit Kugelschreiber und unterschriftsfertigen Verträgen auflauern, sollte man zumindest ein paar Gedanken in diese Richtung verschwenden.
Gruß
Skywise

Günter Wallraff ist wieder unterwegs ...

Verfasst: Fr 25. Mai 2007, 15:22
von Mickey
Lieber Skywise
Den Artikel habe ich auch gelesen, und ich musste ob der Verkleidung schmunzeln - und ob der Tatsache, dass Wallraff es sich nicht nehmen lassen wollte, sich wieder undercover zu betätigen.
Du sagst es wohl schon richtig: man kann ihm vieles vorwerfen, und ich bin der letzte, der dies nicht tun würde (der Kritiker in mir würde es mir verübeln), aber eines muss man ihm lassen: er stürzt sich wirklich in die Abenteuer hinein. Immer wieder spannend.
Liebe Grüsse
Mickey

Günter Wallraff ist wieder unterwegs ...

Verfasst: Fr 25. Mai 2007, 22:26
von amori
Über Wallraffs "Aufmacher " muß ich heute noch schmunzeln.
Ich habe in den Siebzigern in der Buchabteilung eines
großen Zeitschriftenvertriebes gearbeitet, der natürlich
hauptsächlich von der Springer-Presse lebte.
Als der "Aufmacher" erschien (wir hatten in unserer Abteilung
ein paar Tausend geordert) ahnten wir schon Böses.
Quasi in einer Nacht- und Nebelaktion haben wir uns an die
Telefone gehängt und unsere Buchhandelskunden kontaktet,
um ihn so schnell wie möglich "an den Mann" zu bringen.
Am nächsten Tag hieß es prompt : "Auslieferungsstopp".
Die erste Auflage wurde durch eine einstweilige Verfügung
sofort aus dem Verkehr gezogen, die zweite war später zensiert
mit schwarzen Balken erhältlich. Ich habe natürlich noch
die unzensierte Ausgabe ;-) .
Liebe Grüße
Annette

Günter Wallraff ist wieder unterwegs ...

Verfasst: Sa 26. Mai 2007, 17:53
von Benutzer 63 gelöscht
Und was könnte man Wallraff vorwerfen? Ich frag nur, weil mir gerade nichts einfällt, habe mich allerdings nie näher damit beschäftigt. Und was meinst du mit "Kritiker in mir", Mickey, bist du etwa beruflich einer? ;o)
Jürgen

Günter Wallraff ist wieder unterwegs ...

Verfasst: Di 29. Mai 2007, 09:45
von Skywise

JuergenF schrieb:
Und was könnte man Wallraff vorwerfen? Ich frag nur, weil mir gerade nichts einfällt, habe mich allerdings nie näher damit beschäftigt.
Wallraff ist immer wieder bei den Kritikern ins Kreuzfeuer geraten, weil er ein Kritiker ist und die Leute von ihm auch Kritik erwarten :-D
Am Wochenende habe ich mal mit einem Freund über die Situation gesprochen; dabei ist in etwa folgendes Szenario entstanden:
Man könnte Wallraff mitten ins Paradies setzen, in einem prächtigen Palast auf einem Diwan plazieren, mit nackten, willigen Frauen umgeben, mit dem besten Essen versorgen, das das Himmelreich so hergibt und mit einer Aussicht, die einem vor lauter Schönheit regelmäßig den Atem raubt.
Und dann könnte man Wallraff zurück auf die Erde schicken und dieser würde in einem Enthüllungsbericht über das Paradies schreiben, daß die Kissen zu hart waren, daß einem das ständige Frohlocken der Engelsschaden über kurz oder lang den letzten Nerv raubt und daß letzten Endes alle Frauen im Himmel bessere Huren sind. Das Paradies als solches werde allgemein völlig überbewertet. :-D
Mein Freund und ich waren uns dennoch in dem Punkt völlig einig, daß die Gesellschaft solche Leute wie Wallraff braucht; auch wenn sie vielleicht hin und wieder übers Ziel hinausschießen.
Und wir beide waren uns ebenfalls einig, daß man Wallraff immer mit eingeschaltetem Gehirn lesen sollte, um die Kritik zu relativieren und vor allem zu erkennen, wann er - im übertragenen Sinne - den Krieg kritisiert und wann er in seinen Beschreibungen auf die Szenarien der Nebenkriegsschauplätze ausweicht.
Gruß
Skywise

Günter Wallraff ist wieder unterwegs ...

Verfasst: Mi 30. Mai 2007, 12:31
von Michael
Wallraff ist noch aus einem Grund in der Kritik gewesen: Bis heute behauptet Hermann L. Gremliza, der Herausgeber von "konkret", hartnäckig, dass "Der Aufmacher" in großen Teilen nicht von Wallraff, sondern von anderen Autoren (darunter Gremliza selbst) ist. Diese Behauptung ist zumindest nie wiederlegt worden.
Eine interessante Polemik gegen Wallraff gibt's hier, wenn auch schon nicht mehr ganz taufrisch.
Michael