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"Nanga Parbat": Das Plattenlabel über die Neue

Verfasst: Fr 7. Mai 2004, 11:09
von Petra
"Nanga Parbat"
Das Plattenlabel über die Neue:
Reinhard Mey ist ein aufmerksamer und beredter Chronist unserer Zeit. Jedes Studioalbum ist ein musikalisches Tagebuch, aus dem Deutschlands beliebtester Liedermacher seinem Publikum in neuen Songs all das mitteilt, was ihn in jüngster Zeit bewegt und erheitert hat, nachdenklich, traurig und zornig stimmte. In all den Jahren hat sein Publikum ihn als einen äußerst feinsinnigen und humorvollen Künstler kennen und schätzen gelernt. Daraus erwachsen ist ein außergewöhnliches Vertrauensverhältnis zwischen Künstler und Zuhörer. Es ist vielleicht seine vorbehaltlose Ehrlichkeit, seine stets spürbare Lebensfreude, die dem Singer-Songwriter mit der ausdrucksstarken Stimme und dem feinen Gitarrenspiel diese Ausnahmestellung verschafft hat. Mit seinem 23. deutschsprachigen Album "Nanga Parbat" legt der Berliner nun ein Album vor, auf dem er einen ungewöhnlich ernsten Ton anschlägt.
Schon das erste Lied "Alles o.k. in Guantánamo Bay" gleicht einem Aufschrei der Entrüstung, darüber sollten auch die karibischen Rhythmen nicht hinwegtäuschen. "Wie Bush in Guantánamo mit den Menschenrechten umgeht, das hat mich einfach herausgefordert", bekennt der überzeugte Humanist zu diesem Lied über ein höchst brisantes Thema. "Ich finde es barbarisch, dass eine Nation, die uns die Demokratie übergestülpt hat, letztendlich dort so versagt." Und so mag die Desillusionierung mit jedem neuen Krieg und jedem Verstoß gegen die Menschenrechte schmerzen, der Widerstand, die Zivilcourage, mit der Reinhard Mey das hehre Ziel einer besseren Welt verfolgt, bleibt ungebrochen. So hält der überzeugte Pazifist mit dem Anti-Kriegs-Lied "Die Waffen nieder!" ein weiteres Plädoyer für den Frieden, das sich besonders an junge Menschen richtet und Diskussionen einfordert. Das sind spürbar Lieder, die sich Mey einfach von der Seele schreiben muss.
"Nanga Parbat", das Reinhold Messner gewidmete Lied, das dem Album seinen Titel gab, ist ein neunminütiges Monumentalepos und ragt als perfektes Drama mit packenden Bildern wie ein Zentralmassiv aus dem Gesamtwerk von Reinhard Mey heraus. Die tragische Geschichte von Reinhold Messner, dem gemeinsam mit seinem Bruder Günther 1970 die Besteigung des Nanga Parbat gelang - letzterer verunglückte beim Abstieg jedoch tödlich -, war Reinhard Mey bei der Lektüre des Buchs "Der Nackte Berg" so nahe gegangen, dass sich eine Vertonung geradezu aufdrängte. Er hat Reinhold Messner dafür um sein Einverständnis gebeten und es bekommen, was nicht wundert, ist es Reinhard Mey doch gelungen, ein schicksalhaftes Ereignis so spannend darzustellen, dass es tief bewegt. "Die Berge, die es zu versetzen gilt, sind in unserem Bewusstsein!", hat Reinhold Messner einmal gesagt. Das hat Reinhard Mey, der hier zur dichterischen Hochform aufläuft, offensichtlich beherzigt. Sein musikalischer Intimus Manfred Leuchter steht ihm da in nichts nach: "Nanga Parbat" ist ein Meisterwerk symphonischer Dichtung, die der Arrangeur, Produzent und Multi-Instrumentalist im Alleingang bewerkstelligte.
Die Vehemenz, mit der Reinhard Mey diesmal ans Werk gegangen ist, drückt sich auch in "Ich glaube nicht" aus. Das Bibelzitat "Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt" hat Reinhard Mey hier für ein eindringliches Lied aufgegriffen, das den Prunk der Kirchen anprangert, aber auch die Machtbesessenheit von Religionsführern ins Visier nimmt. "Wo ich in der Religionsgeschichte hinblicke, sind durch Religionsführer Leid, Kriege, Verfolgung, Tod und Elend entfacht worden. Von Nordirland bis Palästina ist das auch heute nicht anders", konstatiert Reinhard Mey. Bei diesem Song hatte Mey auch jene ärmlich wirkenden Dörfer im Hinterkopf, in denen sich prachtvolle Kirchen wie ein Fremdkörper ausnehmen. Bei aller Schärfe ist "Ich glaube nicht" jedoch kein respektloses Lied, sondern eher Ausdruck eines Menschen, dessen Glaube sich in Demut ausdrückt.
Ein Lied wie "Friedhof" kommt einem philosophischen Selbstgespräch gleich. Diese "Insel im Meer der Geschäftigkeit" lädt ein zu weltanschaulichen Betrachtungen. Hier zeigt sich, wie die Lebenden mit ihren Toten umgehen. Auch die eigene Vergänglichkeit wird Menschen an kaum einem anderen Ort so bewusst. So wird der Friedhof zum idealen Ort, um Ruhe und Kraft zum Leben zu schöpfen. "Mach mich schon mal mit dem Platz vertraut / An dem man mich eines Tages verstaut / Und geh an den Job zurück, gelöst und heiter / Aufgeräumt und quicklebendig kehr / Ich heim in das Leben ringsumher." Es ist dieses unmerkliche Augenzwinkern, mit dem er diesem Lied eine feinnervige Dynamik verleiht und es zu einem der besonders lebensbejahenden des ganzen Albums macht.
Und natürlich legt Reinhard auch diesmal Zeugnis ab von den Dingen, für die es sich zu kämpfen lohnt: Freundschaft, Liebe und Mitgefühl. Dabei hat sich der Tierschutzaktivist mit dem pikant als Gospel inszenierten "Hundgebet" einmal mehr für eine Kreatur stark gemacht, die zwar als bester Freund des Menschen gilt, in den selteneren Fällen aber auch so behandelt wird. "Ich kann!" wiederum ist Treueschwur auf die Freundschaft. Ein offener Brief, der auf amüsante Art und Weise kleine und große Krisensituationen heraufbeschwört, bei denen ein guter Freund vonnöten sein kann. "Ich habe eine Hand voll Freunde, die mir in jeder Not beistehen", sagt Reinhard Mey. Das dürfte allerdings nicht so häufig der Fall sein, weiß der Gute doch eine starke Frau hinter sich. Und so hat er mit "Ich liege bei dir" nach "Lass Liebe auf uns regnen" vom 2000er Album "Einhandsegler" eine weitere leidenschaftliche Ode an seine Frau Hella geschrieben. "Das ist der Schlüssel, wofür es sich lohnt zu leben, zu kämpfen, zu streiten, da zu sein – die Liebe."
In der Rückschau auf ein bewegtes Leben birgt das Album auch einige berührend nostalgische Momente. "Douce France" etwa, die Erinnerung an das Frankreich seiner Jugend mit all den Legenden des Chansons, spürt der Kultur der Grande Nation nach, die Meys eigenes Schaffen tief geprägt hat. Liebevolle Selbstreflexion einerseits, Musterbeispiel früh praktizierter deutsch-französischer Freundschaft andererseits, will der Autor dieses Chanson mit dem wunderbar verloren wirkenden Akkordeon auch als ein spätes Dankeschön an all die Gastfamilien seiner Kindheit verstanden wissen. "Sven" wiederum ist eine Hommage an die Comics von Carl Barks und Don Rosa, aber auch eine Ehrbezeugung an Dr. Erika Fuchs, die kongeniale Übersetzerin der Duck-Geschichten, deren Sprachwitz sowohl Reinhard Mey als auch seinen Sohn Max begeisterte. Und so erzählt das Lied die wahre Geschichte eines Jungen, dessen Comic-Leidenschaft vom Vater nur halbherzig respektiert wird, was schließlich zu einer Demütigung des Jungen und einer verblüffenden Wendung führt.
"Spider Man" ist ebenfalls nur auf den ersten Blick ein rundum fröhliches Lied. Musikalisch den Sturm-und-Drang-Jahren des frühen Rock’n’Roll eines Bill Haley verpflichtet, verbirgt sich hinter den ironischen Betrachtungen eines Oldtimer-Freaks, der jedes Frühjahr seinen Spider akribisch auf Vordermann bringt, der Gedanke, dass die Vergänglichkeit der Dinge auch das eigene Leben prägt. Was ein Poet wie Reinhard Mey aus den profansten Dingen herausholen kann, zeigt sich auch bei dem pittoresken "Kennst du die kleinen, nicht wirklich nützlichen Gegenstände?". Die notorische Sammelleidenschaft, auch ein Festhalten an liebgewordenen Dingen, wird hier in herrlicher Selbstironie seziert. Das Album klingt mit einem friedvollen Stillleben aus. "Sommerende" gehört vielleicht zu den wehmütigsten Stücken des 61-jährigen Altmeisters, der auf ein erfülltes Leben blickt, ohne jemals die Gegenwart und die Zukunft aus den Augen zu verlieren. Das Innehalten eines glücklichen Menschen.
Reinhard Mey ist das, was man einen hoffnungsvollen Weltverbesserer nennen kann. Mit "Nanga Parbat" hat er einen weiteren Jahresring um seine Lebenschronik geschlossen, wie er es selbst nennt. Erstaunlich und beeindruckend, wie musikalisch experimentierfreudig er dabei auch nach vier Jahrzehnten unablässigen Schaffens geblieben ist. Reinhard Mey, der nach der Veröffentlichung des Albums ein Sabbat-Jahr anberaumt hat und erst nächstes Jahr wieder auf Tournee gehen wird, widmet sich nun erst einmal mit Leib und Seele einer Zeit des Vagabundierens. Auch dabei werden ihm sicherlich wieder Situationen begegnen, die sich als Blaupause für neue Lieder in seinem Tagebuch wiederfinden werden.

"Nanga Parbat": Das Plattenlabel über die Neue

Verfasst: Fr 7. Mai 2004, 12:48
von Michael

"Ich finde es barbarisch, dass eine Nation, die uns die Demokratie übergestülpt hat, letztendlich dort so versagt."

Das Wort "übergestülpt" gefällt mir nicht - es gefällt mir ganz und gar nicht.

"Nanga Parbat": Das Plattenlabel über die Neue

Verfasst: Fr 7. Mai 2004, 13:07
von Gast
Und warum?

"Nanga Parbat": Das Plattenlabel über die Neue

Verfasst: Fr 7. Mai 2004, 13:11
von Mickey
Lieber Michael,
ich glaube, das darf man nicht überwerten. Die Wortwahl ist in dem Sinne okay, als dadurch die historische Entwicklung betont wird: vom aktiven Demokratie-Verbreiter zum Demokratie-Verneiner. So in dem Stil.
Im Prinzip hat sich Deutschland, mit (grosser) Hilfe anderer, die Demokratie aber selbst erschaffen.
Liebe Grüsse
von Reto

"Nanga Parbat": Das Plattenlabel über die Neue

Verfasst: Fr 7. Mai 2004, 18:15
von Michael
Was mich daran erschreckt hat: "Überstülpen" ist doch ein negatives Wort. Es bedeutet, dass man jemandem etwas "otroyiert", was dieser nicht will oder was nicht zu ihm passt. Das ist ja nicht ganz falsch, denn wenn es nach den Deutschen gegangen wäre, hätten wir schließlich keine Demokratie. Wenn ich aber in einer - auch berechtigten - Kritik an den USA vorwerfe, sie hätten Deutschland die Demokratie "übergestülpt", so kritisiere ich durch diese negativ konnotierte Wortwahl den Vorgang und damit die (westliche) Demokratie selbst. "Übergestülpt" bedeutet wie gesagt auch, dass das "Übergestülpte" zu dem, der was "übergestülpt" bekommt, nicht passt. Der Meinung, die Demokratie passe nicht zu den Deutschen war auch Thomas Mann bis er merkte zu was die Deutschen fähig sind, wenn man sie machen lässt, wie sie wollen. Was RM meinte - nehme ich zu seinen Gunsten an - war wohl, dass die Ameriklaner die Demokratie GEBRACHT haben und sich selbst nicht an ihre Maßstäbe halten. Da hat er recht. Aber warum hat er es nicht gesagt?
Reto, du hast sicher recht, wenn man die Wortwahl nicht überbewerten sollte, aber von einem so brillanten Sprachkünstler, der seine Worte so gewählt setzt, erwarte ich da mehr Fingerspitzengefühl. Aber wer weiß, welcher PR-Fuzzi da wieder irgendwas formuliert und RM ist so naiv und kontrolliert nicht, was für ein Scheiß in seinem Namen verbreitet wird.
Ich hoffe, ich konnte mein Erschrecken erklären.