Armut in Deutschland - eine Diskussion
Verfasst: Mi 27. Jul 2011, 13:06
Ich habe mir die Freiheit genommen, bezüglich des Themas "Armut" einen eigenen Thread zu eröffnen, weil hier eine Nebendiskussion im Thread von Klajokas (Norwegen) entstanden ist, die zu einer Vermischung von doch sehr unterschiedlichen Themen geführt hat. Falls die Mehrheit der Meinung sein sollte, dass dies im Ursprungsthread behandelt werden soll, bitte ich die Moderatoren um Verschiebung dieses Beitrages -- und den Rest der Welt um Verzeihung.
Die "Nebendiskussion" hat hier den Anfang gefunden:
[http://www.liedermacher-forum.de/module ... mpost31002]
Lieber Carsten,
aufgrund einer Randbemerkung von mir hast Du sehr ausführlich und interessant Deine Meinungen zum Thema Armut in Deutschland geäußert. Da ich dies aber nicht einfach nur so unüberlegt dahergesagt (-geschrieben) habe, möchte ich genauso ausführlich darauf eingehen.
Du kennst vielleicht den Satz "Ich bin nur verantwortlich für das, was ich sage, nicht für das, was du verstehst." In diesem Sinne fühle ich mich falsch interpretiert.
Den Satz: "Hier wird auf hohem Niveau gejammert", möchte ich nicht zurückziehen, sondern argumentativ begründen. Vielleicht benutzen auch Menschen und Gruppen diese Worte, mit denen ich nichts zu tun habe oder zu tun haben will. Aber eine unangenehme Tatsache wird nicht automatisch dadurch widerlegt, dass Idioten sie ebenfalls aussprechen oder ähnliche Formulierungen benutzen. Abgesehen davon können aus einer Meinung, die ich mir übrigens selbstständig gebildet habe, auch ganz andere Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen entstehen. Das Querdenken habe ich mir vielleicht auch deshalb angewöhnt, weil ich in meiner Kindheit mit zwei absolut unumstößlichen "Wahrheiten" konfrontiert worden bin: 1. Der liebe Gott weiß alles, sieht alles und bestraft alles - die katholische Kirche und ihre Mitarbeiter sind hierbei die Polizei und Vollstrecker des göttlichen Willens - die kirchlichen Lehren sind daher auch als absolut richtig zu betrachten. 2. In politischen Dingen ist das Pendant dafür die CDU, und die Politik der Schwarzen ist das nicht zu kritisierende Non-Plus-Ultra.
Dies alles konnte ich dann ablegen, weil ich gelernt habe, solche "unfehlbaren" Wahrheiten kritisch zu hinterfragen. Gleichzeitig habe ich mir aber auch eine Autonomie erarbeitet, die es mir verbietet, mich vorbehaltlos hundertprozentig einem Lager oder einer politischen Richtung anzuschließen. Daher ist es für mich in erster Linie irrelevant, ob meine Meinung populär ist oder nicht (und setze mich auf mein Achtel Lorbeerblatt). Warum sollte ich die eine reine Lehre durch die andere reine Lehre ersetzen? Dies überlasse ich den Marxisten, Kommunisten und deren Vertreter bei den Linken.
Meinungen gehören immer auf den Prüfstand und bevor ich vorschnell etwas von mir gebe, möchte ich mich gründlich informieren und mich selbst auch in meiner Meinung kritisch hinterfragen. In diesem Sinne sind mir die Meinungsmacher von Gruppierungen und Parteien oft zuwider, wenn sie am extremen Rand positioniert sind. Und dies egal ob sie von der CDU, FDP, SPD, den Grünen oder von der Linken kommen. Ach, die Kirche hatte ich ja noch vergessen. Und trotzdem: Kein Mensch labert immer nur Mist und manchmal sagt selbst ein Guido Westerwelle vernünftige Sachen (soll schon mal vorgekommen sein).
Ok, den letzten Satz dürft ihr streichen - war nur Satire
Zum Thema:
Es stimmt: oft vergleiche ich unsere gesellschaftlichen Umstände mit denen in anderen Ländern und auf anderen Kontinenten. Und mein Selbstmitleidspegel sinkt wirklich, wenn ich mir bewusst mache, dass ich durch meine Herkunft in einem der reichsten Länder der Welt privilegiert bin. Es ist legitim und sogar geboten sich diesen Umstand immer wieder bewusst zu machen. Ja, man darf (und sollte meiner Meinung nach) unterschiedliche Gesellschaften und Länder auch vergleichen und daraus seine Schlüsse ziehen. Uns beneiden ein paar Milliarden Menschen um sauberes Wasser, ausreichende Nahrung, eine gute Gesundheitsversorgung und eine funktionierende Demokratie.
Es ist aber absolut nicht stimmig, wenn meine Äußerung derart interpretiert wird, dass mir soziale Ungerechtigkeiten in unserem Land egal sind, bzw. dass ich sie gar nicht wahrnehme.
Grundsätzlich halte ich aber die offizielle Definition des Armutsbegriffes für total hirnrissig. Als arm gilt man in der EU, wenn man mit weniger als 60% des mittleren Einkommens auskommen muss. Aber! - unabhängig davon, wie hoch das mittlere Einkommen ist. Dies würde im Gedankenspiel zu folgender Skurrilität führen: Wenn das Durchschnittseinkommen aller so ansteigen würde, dass jeder, der heute als "arm" gilt, plötzlich so viel hat, wie heute der Durchschnittsverdiener, würde er immer noch als arm gelten, da der Durchschnittsverdiener ja nun auch noch mehr hat und die relative Differenz immer noch gegeben ist. In der ehemaligen DDR ist der Effekt sehr gut zu beobachten: Im Gegensatz zu früher sind die meisten Menschen dort heute besser versorgt, selbst wenn Sie Sozialleistungen beziehen. Da es aber den relativen Vergleich zu den anderen gibt, die nun deutlich mehr haben, sind viele "arm" im Sinne der EU-Definition (man könnte auch sagen, sie wurden "arm-definiert"). Der Mensch vergleicht sich und seine Lebenssituation ständig mit denen seiner Mitmenschen. Unzufriedenheit ensteht durch Wahrnehmung und Bewertung dieser Wahrnehmung.
Hiermit sei die offizielle Diskussion eröffnet, wie andere "Armut" definieren. Seid ihr mehrheitlich der Meinung, dass die "60%-unter-dem-Durchschnittseinkommen" die richtige Definition ist oder habt ihr andere Vorschläge, auf die ich sehr gespannt bin! Vielleicht kann ich mich dann auch mit der einen oder anderen Definition solidarisch erklären, weil ich sie toll finde.
Dazuhin kommt natürlich noch die rein philosophische Frage, ob "Armut" nur durch die An- oder Abwesenheit von finanziellen Mitteln definiert sein soll. Dies nur als Randbemerkung.
Um Dir jetzt noch die Angst zu nehmen, dass ich evtl. ins reaktionäre Lager abgedriftet sein könnte , noch folgende Anmerkungen:
1. Es ist meiner Meinung nach eine Schande, dass es in Deutschland keinen flächendeckenden Mindestlohn für alle Branchen gibt. Das Geschrei der Manager, die die wirtschaftliche Apokalypse herannahen sehen, wenn dies umgesetzt werden würde, ist einfach nur lächerlich.
2. Die Zeitarbeitsbranche wird noch viel zu wenig kontrolliert. Es gibt zwar schon einige sinnvolle Regelungen, die aber meist unterlaufen werden. Dies ist eine moderne Mafia, die in die Schranken gewiesen werden muss.
3. Die Idee des Grundeinkommens ist ein sehr guter Ansatz. Ob es letztendlich "bedingungslos" oder verbunden mit Arbeitszwang sein soll, sollte von der Gesellschaft entschieden werden. Selbst die FDP (oh, Wunder), ist hier progressiv geworden und hatte in den Koalitionsverhandlungen den Wunsch nach dem Grundeinkommen geäußert (was aber leider von der CDU abgeschmettert wurde - so revolutionär sind die nicht).
4. Eine der wichtigsten sozialstaatlichen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte war die Einführung des BAFÖG. Diese Förderung darf nicht angetastet werden. Genauso wenig ist es gerechtfertigt, durch Studiengebühren wieder eine soziale Selektion zu betreiben ("Papa hat die Kohle, also kann ich studieren.").
5. Das Steuerrecht darf es den Unternehmen nicht ermöglichen, sich durch Abschreibungskonstrukte arm zu rechnen. Wenn es möglich ist, die Kosten einer Produktionsverlagerung ins Ausland auch noch von der Steuer abzusetzen, läuft etwas gewaltig schief in unserem Land.
6. Natürlich ist es ungerecht, wenn ich trotz Arbeit noch auf Sozialleistungen angewiesen bin. In dem Zusammenhang kommt mir immer das Thema Zeitarbeit und damit gleichzeitig die Galle hoch.
Und jetzt kommen wieder ein paar Meinungen, die hier vermutlich keinen Popularitätspreis erringen:
1. Migranteneltern müssen verpflichtet werden, ihre Kinder in den Kindergarten zu schicken. Deren Kinder müssen zum Schuleintritt die deutsche Sprache beherrschen und notfalls, um dies zu gewährleisten, Sprachförderung bekommen. Die Beherrschung der Sprache ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, um in der Gesellschaft gute Startchancen zu haben. Ansonsten droht - vermeidbare - Armut.
2. Die Förderung von Kindern aus sozialschwachen Familien muss sehr früh und kostenlos erfolgen. Wenn die Eltern nicht mitziehen, ist auch Druck notwendig, was leider meist nur wirkt, wenn der Geldzufluss zwangsweise beschränkt wird.
3. Das Gesundheitssystem ist auch durch zivilisationsbedingte Krankheiten übermäßig belastet. Wenn das Sozialversicherungssystem als Reparaturbetrieb verstanden wird, der mir alle meine Krankheiten wieder beseitigt, selbst wenn ich sie durch Rauchen, Übergewicht, Alkoholmissbrauch o. ä. selbst verursacht habe, verhalte ich mich asozial im Sinne des Wortes. Hier müssen Regelungen gefunden werden, die verhindern, dass alle die Unvernunft von Einzelnen mitfinanzieren müssen, oder im schlimmsten Falle nach dem Rasenmäherprinzip gekürzt wird und die unverschuldet Krankgewordenen ihre Behandlung nicht mehr oder nicht mehr vollständig finanziert bekommen.
4. Das förderale Bildungssystem gehört abgeschafft, weil jedes Bundesland vor sich hin wurstelt. Die Bildungspolitik in Deutschland ist eine Katastrophe und gehört dringendst reformiert. In unserem Freundeskreis sind einige Lehrer, die alle das mangelnde Bildungsniveau und die Unstrukturiertheit im Bildungssystem massiv kritisieren. Eine gute Bildung ist auch ein "Grundnahrungsmittel" gegen Armut. Der verständliche Wunsch, jedem Jugendlichen einen Schulabschluss zu ermöglichen, sollte aber keinesfalls dazu führen, dass das Leistungslimit so weit abgesenkt wird, dass jeder halt sein Zeugnis bekommt, unabhängig davon, ob er die Anforderungen erfüllt oder nicht. Ein befreundeter Lehrer hat mir kopfschüttelnd erzählt, wie er mit der Forderung seines Rektors konfrontiert wurde - 50 % eines Jahrgangs haben das Abitur zu schaffen, dies ist das einzig wichtige Bildungsziel. Ob sie die Hochschul-"reife" dann auch wirklich besitzen, ist eher nebensächlich. Mit dem mangelnden Niveau dieser Schulausbildung dürfen sich dann Ausbildungsstätten oder die Universitäten herumschlagen.
5. Eine gute Sozialpolitik besteht nicht darin, ständig nur mehr Geldleistungen für die als bedürftig Erklärten zu fordern, sondern versucht das Übel an der Wurzel zu packen. Der Versuch, einen Eimer mit Löchern im Boden zu füllen, in dem ich ständig Wasser nachgieße, muss scheitern. Nur das Flicken der Löcher oder die Anschaffung eines neuen Gefäßes macht wirklich Sinn.
6. Leider habe ich sehr viele negative persönliche Beobachtungen in meinem persönlichen Umfeld mit dem Thema HartzIV und/oder Sozialhilfe gemacht. Auch wenn es hier vermutlich einen Aufschrei der Entrüstung hervorrufen wird: meine hierbei gemachten Erfahrungen passen leider nicht ins politisch korrekte Weltbild. Es wimmelt in ca. 90% der Fälle von Betrügereien, Manipulationen und Tricksereien. Und ich habe wirklich krasse Fälle erlebt. In dieser Hinsicht hatte ich auch sehr interessante Gespräche mit Heike über ihre Erfahrungen, die sie in Leipzig als Mitarbeiterin in einem Caritas-Projekt für sozialschwache Frauen gemacht hat. Aber grundsätzlich rede ich lieber von eigenen Erfahrungen, als von "Ich habe gehört, dass ..."
7. Wir haben, trotz nicht zu leugnender Erosionserscheinungen, immer noch eines der besten Sozialsysteme der Welt, um Armut zu begrenzen.
Millionäre und Milliardäre sind für mich nicht sonderlich interessant. Nur wenn sie ihren Reichtum durch Ausbeutung von anderen erlangt haben, beschäftigt mich dies mehr. Ob dies immer der Fall ist, möchte ich jetzt nicht bewerten. Für mich stellt es eh kein Ziel dar, möglichst viel auf dem Konto zu haben, wenn ich mal in die Kiste komme. Es soll halt für meine/unsere Bedürfnisse reichen.
Liebe Grüße
Michael Nr. X,
der gerade seine Zeit in der Hängematte des Sozialstaats verbringt (Krankenhaus). Aber morgen darf ich endlich wieder nach Hause. Freu
Die "Nebendiskussion" hat hier den Anfang gefunden:
[http://www.liedermacher-forum.de/module ... mpost31002]
Lieber Carsten,
aufgrund einer Randbemerkung von mir hast Du sehr ausführlich und interessant Deine Meinungen zum Thema Armut in Deutschland geäußert. Da ich dies aber nicht einfach nur so unüberlegt dahergesagt (-geschrieben) habe, möchte ich genauso ausführlich darauf eingehen.
Du kennst vielleicht den Satz "Ich bin nur verantwortlich für das, was ich sage, nicht für das, was du verstehst." In diesem Sinne fühle ich mich falsch interpretiert.
Den Satz: "Hier wird auf hohem Niveau gejammert", möchte ich nicht zurückziehen, sondern argumentativ begründen. Vielleicht benutzen auch Menschen und Gruppen diese Worte, mit denen ich nichts zu tun habe oder zu tun haben will. Aber eine unangenehme Tatsache wird nicht automatisch dadurch widerlegt, dass Idioten sie ebenfalls aussprechen oder ähnliche Formulierungen benutzen. Abgesehen davon können aus einer Meinung, die ich mir übrigens selbstständig gebildet habe, auch ganz andere Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen entstehen. Das Querdenken habe ich mir vielleicht auch deshalb angewöhnt, weil ich in meiner Kindheit mit zwei absolut unumstößlichen "Wahrheiten" konfrontiert worden bin: 1. Der liebe Gott weiß alles, sieht alles und bestraft alles - die katholische Kirche und ihre Mitarbeiter sind hierbei die Polizei und Vollstrecker des göttlichen Willens - die kirchlichen Lehren sind daher auch als absolut richtig zu betrachten. 2. In politischen Dingen ist das Pendant dafür die CDU, und die Politik der Schwarzen ist das nicht zu kritisierende Non-Plus-Ultra.
Dies alles konnte ich dann ablegen, weil ich gelernt habe, solche "unfehlbaren" Wahrheiten kritisch zu hinterfragen. Gleichzeitig habe ich mir aber auch eine Autonomie erarbeitet, die es mir verbietet, mich vorbehaltlos hundertprozentig einem Lager oder einer politischen Richtung anzuschließen. Daher ist es für mich in erster Linie irrelevant, ob meine Meinung populär ist oder nicht (und setze mich auf mein Achtel Lorbeerblatt). Warum sollte ich die eine reine Lehre durch die andere reine Lehre ersetzen? Dies überlasse ich den Marxisten, Kommunisten und deren Vertreter bei den Linken.
Meinungen gehören immer auf den Prüfstand und bevor ich vorschnell etwas von mir gebe, möchte ich mich gründlich informieren und mich selbst auch in meiner Meinung kritisch hinterfragen. In diesem Sinne sind mir die Meinungsmacher von Gruppierungen und Parteien oft zuwider, wenn sie am extremen Rand positioniert sind. Und dies egal ob sie von der CDU, FDP, SPD, den Grünen oder von der Linken kommen. Ach, die Kirche hatte ich ja noch vergessen. Und trotzdem: Kein Mensch labert immer nur Mist und manchmal sagt selbst ein Guido Westerwelle vernünftige Sachen (soll schon mal vorgekommen sein).
Ok, den letzten Satz dürft ihr streichen - war nur Satire
Zum Thema:
Es stimmt: oft vergleiche ich unsere gesellschaftlichen Umstände mit denen in anderen Ländern und auf anderen Kontinenten. Und mein Selbstmitleidspegel sinkt wirklich, wenn ich mir bewusst mache, dass ich durch meine Herkunft in einem der reichsten Länder der Welt privilegiert bin. Es ist legitim und sogar geboten sich diesen Umstand immer wieder bewusst zu machen. Ja, man darf (und sollte meiner Meinung nach) unterschiedliche Gesellschaften und Länder auch vergleichen und daraus seine Schlüsse ziehen. Uns beneiden ein paar Milliarden Menschen um sauberes Wasser, ausreichende Nahrung, eine gute Gesundheitsversorgung und eine funktionierende Demokratie.
Es ist aber absolut nicht stimmig, wenn meine Äußerung derart interpretiert wird, dass mir soziale Ungerechtigkeiten in unserem Land egal sind, bzw. dass ich sie gar nicht wahrnehme.
Grundsätzlich halte ich aber die offizielle Definition des Armutsbegriffes für total hirnrissig. Als arm gilt man in der EU, wenn man mit weniger als 60% des mittleren Einkommens auskommen muss. Aber! - unabhängig davon, wie hoch das mittlere Einkommen ist. Dies würde im Gedankenspiel zu folgender Skurrilität führen: Wenn das Durchschnittseinkommen aller so ansteigen würde, dass jeder, der heute als "arm" gilt, plötzlich so viel hat, wie heute der Durchschnittsverdiener, würde er immer noch als arm gelten, da der Durchschnittsverdiener ja nun auch noch mehr hat und die relative Differenz immer noch gegeben ist. In der ehemaligen DDR ist der Effekt sehr gut zu beobachten: Im Gegensatz zu früher sind die meisten Menschen dort heute besser versorgt, selbst wenn Sie Sozialleistungen beziehen. Da es aber den relativen Vergleich zu den anderen gibt, die nun deutlich mehr haben, sind viele "arm" im Sinne der EU-Definition (man könnte auch sagen, sie wurden "arm-definiert"). Der Mensch vergleicht sich und seine Lebenssituation ständig mit denen seiner Mitmenschen. Unzufriedenheit ensteht durch Wahrnehmung und Bewertung dieser Wahrnehmung.
Hiermit sei die offizielle Diskussion eröffnet, wie andere "Armut" definieren. Seid ihr mehrheitlich der Meinung, dass die "60%-unter-dem-Durchschnittseinkommen" die richtige Definition ist oder habt ihr andere Vorschläge, auf die ich sehr gespannt bin! Vielleicht kann ich mich dann auch mit der einen oder anderen Definition solidarisch erklären, weil ich sie toll finde.
Dazuhin kommt natürlich noch die rein philosophische Frage, ob "Armut" nur durch die An- oder Abwesenheit von finanziellen Mitteln definiert sein soll. Dies nur als Randbemerkung.
Um Dir jetzt noch die Angst zu nehmen, dass ich evtl. ins reaktionäre Lager abgedriftet sein könnte , noch folgende Anmerkungen:
1. Es ist meiner Meinung nach eine Schande, dass es in Deutschland keinen flächendeckenden Mindestlohn für alle Branchen gibt. Das Geschrei der Manager, die die wirtschaftliche Apokalypse herannahen sehen, wenn dies umgesetzt werden würde, ist einfach nur lächerlich.
2. Die Zeitarbeitsbranche wird noch viel zu wenig kontrolliert. Es gibt zwar schon einige sinnvolle Regelungen, die aber meist unterlaufen werden. Dies ist eine moderne Mafia, die in die Schranken gewiesen werden muss.
3. Die Idee des Grundeinkommens ist ein sehr guter Ansatz. Ob es letztendlich "bedingungslos" oder verbunden mit Arbeitszwang sein soll, sollte von der Gesellschaft entschieden werden. Selbst die FDP (oh, Wunder), ist hier progressiv geworden und hatte in den Koalitionsverhandlungen den Wunsch nach dem Grundeinkommen geäußert (was aber leider von der CDU abgeschmettert wurde - so revolutionär sind die nicht).
4. Eine der wichtigsten sozialstaatlichen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte war die Einführung des BAFÖG. Diese Förderung darf nicht angetastet werden. Genauso wenig ist es gerechtfertigt, durch Studiengebühren wieder eine soziale Selektion zu betreiben ("Papa hat die Kohle, also kann ich studieren.").
5. Das Steuerrecht darf es den Unternehmen nicht ermöglichen, sich durch Abschreibungskonstrukte arm zu rechnen. Wenn es möglich ist, die Kosten einer Produktionsverlagerung ins Ausland auch noch von der Steuer abzusetzen, läuft etwas gewaltig schief in unserem Land.
6. Natürlich ist es ungerecht, wenn ich trotz Arbeit noch auf Sozialleistungen angewiesen bin. In dem Zusammenhang kommt mir immer das Thema Zeitarbeit und damit gleichzeitig die Galle hoch.
Und jetzt kommen wieder ein paar Meinungen, die hier vermutlich keinen Popularitätspreis erringen:
1. Migranteneltern müssen verpflichtet werden, ihre Kinder in den Kindergarten zu schicken. Deren Kinder müssen zum Schuleintritt die deutsche Sprache beherrschen und notfalls, um dies zu gewährleisten, Sprachförderung bekommen. Die Beherrschung der Sprache ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, um in der Gesellschaft gute Startchancen zu haben. Ansonsten droht - vermeidbare - Armut.
2. Die Förderung von Kindern aus sozialschwachen Familien muss sehr früh und kostenlos erfolgen. Wenn die Eltern nicht mitziehen, ist auch Druck notwendig, was leider meist nur wirkt, wenn der Geldzufluss zwangsweise beschränkt wird.
3. Das Gesundheitssystem ist auch durch zivilisationsbedingte Krankheiten übermäßig belastet. Wenn das Sozialversicherungssystem als Reparaturbetrieb verstanden wird, der mir alle meine Krankheiten wieder beseitigt, selbst wenn ich sie durch Rauchen, Übergewicht, Alkoholmissbrauch o. ä. selbst verursacht habe, verhalte ich mich asozial im Sinne des Wortes. Hier müssen Regelungen gefunden werden, die verhindern, dass alle die Unvernunft von Einzelnen mitfinanzieren müssen, oder im schlimmsten Falle nach dem Rasenmäherprinzip gekürzt wird und die unverschuldet Krankgewordenen ihre Behandlung nicht mehr oder nicht mehr vollständig finanziert bekommen.
4. Das förderale Bildungssystem gehört abgeschafft, weil jedes Bundesland vor sich hin wurstelt. Die Bildungspolitik in Deutschland ist eine Katastrophe und gehört dringendst reformiert. In unserem Freundeskreis sind einige Lehrer, die alle das mangelnde Bildungsniveau und die Unstrukturiertheit im Bildungssystem massiv kritisieren. Eine gute Bildung ist auch ein "Grundnahrungsmittel" gegen Armut. Der verständliche Wunsch, jedem Jugendlichen einen Schulabschluss zu ermöglichen, sollte aber keinesfalls dazu führen, dass das Leistungslimit so weit abgesenkt wird, dass jeder halt sein Zeugnis bekommt, unabhängig davon, ob er die Anforderungen erfüllt oder nicht. Ein befreundeter Lehrer hat mir kopfschüttelnd erzählt, wie er mit der Forderung seines Rektors konfrontiert wurde - 50 % eines Jahrgangs haben das Abitur zu schaffen, dies ist das einzig wichtige Bildungsziel. Ob sie die Hochschul-"reife" dann auch wirklich besitzen, ist eher nebensächlich. Mit dem mangelnden Niveau dieser Schulausbildung dürfen sich dann Ausbildungsstätten oder die Universitäten herumschlagen.
5. Eine gute Sozialpolitik besteht nicht darin, ständig nur mehr Geldleistungen für die als bedürftig Erklärten zu fordern, sondern versucht das Übel an der Wurzel zu packen. Der Versuch, einen Eimer mit Löchern im Boden zu füllen, in dem ich ständig Wasser nachgieße, muss scheitern. Nur das Flicken der Löcher oder die Anschaffung eines neuen Gefäßes macht wirklich Sinn.
6. Leider habe ich sehr viele negative persönliche Beobachtungen in meinem persönlichen Umfeld mit dem Thema HartzIV und/oder Sozialhilfe gemacht. Auch wenn es hier vermutlich einen Aufschrei der Entrüstung hervorrufen wird: meine hierbei gemachten Erfahrungen passen leider nicht ins politisch korrekte Weltbild. Es wimmelt in ca. 90% der Fälle von Betrügereien, Manipulationen und Tricksereien. Und ich habe wirklich krasse Fälle erlebt. In dieser Hinsicht hatte ich auch sehr interessante Gespräche mit Heike über ihre Erfahrungen, die sie in Leipzig als Mitarbeiterin in einem Caritas-Projekt für sozialschwache Frauen gemacht hat. Aber grundsätzlich rede ich lieber von eigenen Erfahrungen, als von "Ich habe gehört, dass ..."
7. Wir haben, trotz nicht zu leugnender Erosionserscheinungen, immer noch eines der besten Sozialsysteme der Welt, um Armut zu begrenzen.
Millionäre und Milliardäre sind für mich nicht sonderlich interessant. Nur wenn sie ihren Reichtum durch Ausbeutung von anderen erlangt haben, beschäftigt mich dies mehr. Ob dies immer der Fall ist, möchte ich jetzt nicht bewerten. Für mich stellt es eh kein Ziel dar, möglichst viel auf dem Konto zu haben, wenn ich mal in die Kiste komme. Es soll halt für meine/unsere Bedürfnisse reichen.
Liebe Grüße
Michael Nr. X,
der gerade seine Zeit in der Hängematte des Sozialstaats verbringt (Krankenhaus). Aber morgen darf ich endlich wieder nach Hause. Freu